Strategien der Zigarettenindustrie

von  Prof. Dr. med. Martin Kaltenbach, Dreieich

Am 8. Oktober 1997 fand in Bonn eine Sitzung des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestags zum Thema Rauchen statt. Es ging um den Antrag einer interfraktionellen Gruppe von Abgeordneten(CDU, SPD, FDP) unter Führung von Roland Sauer, MdB, der den Schutz vor dem Passivrauchen zum Ziel hatte. Zur gleichen Zeit lag ein Gesetzesentwurf der Europäischen Union
(EU-Richtlinie 98/43/EC) vor, der ein vollständiges Verbot der Werbung für Zigaretten und andere Tabakwaren vorsah. In der Bonner Sitzung des Gesundheitsausschusses wurden etwa 20 Experten aus verschiedenen medizinischen Fachgebieten angehört. Als Kardiologe und Vertreter der Deutschen Herzstiftung war auch ich eingeladen. Zum allgemeinen Erstaunen– üblicherweise haben drei Professoren vier verschiedene Meinungen – unterstützten die vielen Experten den Antrag praktisch einmütig, wobei wichtige Argumente in fundierter Form vorgetragen wurden. Die einzige Ausnahme bildete Prof. Dr. med. Franz Adlkofer, dessen Ausführungen aber ohnehin mit Zurückhaltung aufgenommen wurden, weil bekannt war, dass er lange Jahre als leitender Wissenschaftler bei der Zigarettenindustrie tätig war. Der Antrag der interfraktionellen Gruppe wurde am 5. Februar 1998 (vor allem mit den Stimmen von CDU und FDP) im Bundestag abgelehnt. Stichhaltige Gründe für die Ablehnung wurden nicht mitgeteilt. In Anbetracht der ausführlich diskutierten wissenschaftlichen Tatbestände und der nahezu einmütigen Stellungnahme der geladenen Experten war diese Entscheidung nicht zu verstehen. Man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier im Interesse der Zigarettenindustrie gehandelt wurde.
Schon zuvor war zu beobachten, dass die Zigarettenindustrie große Anstrengungen machte, die öffentliche Meinung und die Meinung von Wissenschaftlern und Ärzten bezüglich der Wirkung des Passivrauchens zu beeinflussen. Die Meinung von den verschwindend wenigen Wissenschaftlern, die die Gefahren des Passivrauchens als gering ansahen, wurden einseitig verstärkt und die allgemeine wissenschaftliche Erkenntnis verschwiegen oder propagandistisch überdeckt. Wie erfolgreich diese Beeinflussung war, konnte man jahrelang an den in Zeitungen und halbwissenschaftlichen Zeitschriften eingestreuten Artikeln mit völlig einseitigen Informationen ablesen. Der Einfluss ging so weit, dass anderslautende Artikel erst gar nicht zur Publikation angenommen wurden. Die Hintergründe dieser Kampagne und der zunächst unerklärlichen Bundestagsentscheidung wurden jetzt offenbar. Aufklärung über die Strategien der Zigarettenindustrie wurde dadurch möglich, dass die amerikanische Zigarettenindustrie nach den zahlreichen gegen sie geführten Prozesse gezwungen wurde, ihre Archive mitinternen, bisher geheimen Dokumenten zur Einsicht freizugeben. Es handelt sich um die Archive von Philip Morris, R J Reynolds und British American Tobacco. Eine Gruppe angesehener amerikanischer Wissenschaftler1 hat die Archive studiert und ihre Ergebnisse unter dem Titel Tobaccoindustry strategies for influencing EuropeanCommunity tobacco advertising legislation in Lancet (13. April 2002, Nr. 359; S. 1323 ff.) veröffentlicht. Dieser Text wird ergänzt durch eine im Internet verfügbare, ausführliche Dokumentation unter www.library.ucsf.edu/tobacco/euad/. Aus dieser Publikation geht hervor, dass die Zigarettenindustrie systematisch alles daran gesetzt hat, um Beschlüsse auf europäischer Ebene in ihrem Sinn zu beeinflussen und unangenehme Entscheidungen zu verhindern. Dazu wurden die
Regierungen von Ländern, die für die Tabakindustrie ein offenes Ohr hatten, fortlaufend beobachtet und beeinflusst. Es handelte sich vor allem um Deutschland, England und die Niederlande. Unter
der Führung Deutschlands blockierte diese Minorität die Gesetzgebung eines Werbeverbots für Tabak: „The blocking minority, led by the German delegation, actively prevented any further
progress on the directive between 1992 and 1997.“

Der Bericht zeigt, dass die Zigarettenindustrie es darauf anlegte, Bündnisse mit wichtigen Politikern und Marketing- und Mediagruppen zu schmieden. Kampagnen gegen das Werbeverbot für Zigaretten liefen unter dem Banner Meinungsfreiheit mit Hilfe eines Komitees Freedom of Commercial Expression. Damit – unterstützt durch die Attraktivität von der Verbindung von Formel-1-Rennen mit Zigarettenmarken – gelang es der Zigarettenindustrie, ein ihr günstiges politisches und öffentliches Klima zu schaffen. Einen großen Erfolg erzielte die Zigarettenindustrie durch die Stillegung eines wissenschaftlichen Instituts in Belgien. Dieses Institut (European Bureau for Action on Smoking Prevention BASP) hatte sich die Eindämmung des Rauchens zum Ziel gesetzt. 1988 gegründet wurde es 1990 in die Europäische Union integriert und von ihr finanziert. Seine Hauptrolle war, die EU zu beraten bei ihrem Programm Europa gegen den Krebs und Informationen über die Tabakindustrie zu beschaffen. Das Institut koordinierte auch nationale Kampagnen gegen das Rauchen in eine breite europaweite Bewegung und veröffentlichte wirkungsvolle Aufklärungsschriften wie z. B. Give Children a Chance. Es beobachtete die Aktivitäten der Zigarettenindustrie kritisch und fand zum Beispiel heraus, wie die Zigarettenindustrie die Vorschriften für Warnhinweise auf Zigarettenpackungen umging. Die Aktivitäten des Instituts beunruhigten die Zigarettenindustrie mehr und mehr. Schließlich gelang es Deutschland, England und Niederlande – also den Ländern, die am meisten unter dem Einfluss der Tabakindustrie standen – einen europäischen Beschluss herbeizuführen, der zur
Streichung der EU-Mittel und damit zur Stillegung des Instituts führte. Was hat Politiker bewogen, mehr auf die Zigarettenindustrie zu hören als auf wissenschaftliche Experten? Im Falle der englischen Regierung enthält die Dokumentation konkrete Hinweise. Es wird die Summe aufgeführt, die jährlich an Margaret Thatcher nach ihrem Rücktritt von 1992 an floss: nämlich 250 000 Pfund jährlich an sie selbst und 250 000 Pfund jährlich an die Margaret Thatcher-Stiftung. Leider wird Deutschland mehrfach als besonders wichtiger Partner der Zigarettenindustrie angeführt.
Auch Helmut Kohl erscheint in dem Bericht für die Zigarettenindustrie als Person bedeutsam und ihr zugewandt. Schon 1978, als Kohl Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion war,
dankte ihm Dieter von Specht, Vorstandsvorsitzender des Verbandes der Zigarettenindustrie (VdC) und von British American Tobacco Deutschland: „Allerdings erschöpft sich die Bedeutung
Ihres Schreibens an uns nicht bloß in dem bloßen Akt der Informationsvermittlung. Es ist unseres Wissens das erste Mal, dass sich ein Fraktionsvorsitzender in dieser Form persönlich an die
Wirtschaft gewandt hat.” 1993 geht aus den internen Papieren hervor, dass die Zigarettenindustrie mit der Unterstützung von Helmut Kohl im Kampf gegen das Werbeverbotrechnete. Auch Martin Bangemann (damals Mitglied der europäischen Kommission) erwies sich als wichtiger Bundesgenosse in diesem Kampf.

Nach Abwahl der konservativen Regierung änderte sich in England die gefügige Einstellung zum Wohl der Zigarettenindustrie. Dadurch gelang schließlich die Durchsetzung des Gesetzesentwurfs im europäischen Parlament (1998). In Deutschland blieb die Haltung dagegen durch den Regierungswechsel unbeeinflusst und das Gesetz wurde schließlich durch Deutschland zu Fall gebracht. Aufgrund einer von Deutschland angestrengten Klage wurde am 5. Oktober 2000 die Richtlinie gegen das Werbeverbot (98/43/EC) juristisch gestoppt wegen Kollision mit Artikel 95. Ein solches Verhalten ist mit der Maxime „Schaden vom deutschen Volk abzuwenden“ nicht
vereinbar. Wir dürfen nichts unversucht lassen, um unserer Regierung und jedem Abgeordneten klarzu machen, dass aktives und passives Rauchen ein Umweltgift ersten Grades darstellt, das für vorzeitigen Tod infolge Herzinfarkt, Schlaganfall und einer immer länger werdenden Liste verschiedener Krebsleiden verantwortlich ist. Neben dem Lungenkrebs, dessen Verursachung durch Zigarettenrauchen schon lange bekannt ist, wurde in jüngster Zeit auch festgestellt, dass Brustkrebs bei Frauen, die früh mit dem Rauchen begonnen haben, doppelt so häufig auftritt wie bei Nichtraucherinnen. Infolge der falschen deutschen Gesundheitspolitik ist es inzwischen soweitgekommen, dass die jungen Mädchen in unserem Land europaweit am meisten rauchen. Die Folgen werden erst Jahrzehnte später in vollem Umfang auftreten. Schon jetzt ist aber erkennbar, dass der Lungenkrebs jedes Jahr bei Frauen häufiger wird! Nach Angaben der Bundesärztekammer sterben jährlich in Deutschland über 100 000 Menschen an den direkten Folgen des Rauchens, das heißt 274 Menschen jeden Tag. Wieviel Leid ist damit verbunden! Auch der volkswirtschaftliche Schaden – das sei denen gesagt, die alles unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten sehen wollen – ist immens. Unglücklicherweise handelt es sich nicht um Sünden der Vergangenheit, die man jetzt vergessen
könnte. Vielmehr hat die Bundesregierung vertreten durch das Bundesgesundheitsministerium am 20. März 2002 mit dem Verband der Zigarettenindustrie einen Vertrag geschlossen, mit
dem sie sich erneut in das Boot dieser Industrie begibt. Sie wird ab jetzt über fünf Jahre eine Werbekampagne gegen das Rauchen von Kindern und Jugendlichen mit insgesamt 11,8 Millionen
Euro unterstützen. Die Initiative ging bemerkenswerterweise von der Zigarettenindustrie aus. Diese hat in der Vergangenheit bewiesen, dass sie die eigenen Interessen der Gesundheit von Jugendlichen voranstellt. So ist bekannt, dass die Suchtgefährdung schon nach Rauchen über wenige Wochen einsetzt, ohne dass daraus irgendwelche Konsequenzen gezogen worden wären. Es
muss daher befürchtet werden, dass auch diese Aktion von der Industrie nur benutzt wird, um Prestige zu gewinnen und die Werbekampagne gegen das Rauchen in ihrem Interesse zu beeinflussen.
Eigentlich beinhaltet schon der Wortlaut des Vertrags den Sieg der Industrie, indem die Werbeoder Aufklärungsmaßnahmen „nicht die Zigarettenindustrie oder deren Produkte diskriminieren“
dürfen. Was soll die Kampagne zum Inhalt haben, wenn die eminente Schädlichkeit der Zigaretten nicht dargestellt werden darf ? Über einhundert deutsche und europäische Organisationen,
die sich mit den Auswirkungen des Rauchens beschäftigen, haben die Beweggründe dieses Vertrags als unlauter eingestuft und deswegen einen Brief an den deutschen Bundeskanzler gerichtet, in dem dieser aufgefordert wird „sich nicht länger schützend vor die Zigarettenindustrie zu stellen“. Auch ein anderer Vorgang aus jüngster Zeit wirft ein schlechtes Licht auf Deutschland: Die Europäische
Union hat eine neue Richtlinie (2001/37/EC) erlassen, um den Schadstoffgehalt der Zigaretten zu begrenzen, die Warnhinweise auf den Verpackungen zu vergrößern und verharmlosende
Zusätze wie mild und leicht zu verbieten. Auch dagegen hat die Bundesregierung geklagt. Ihre Klage wurde am 15. Mai 2002 abgewiesen, weil sie zuspät eingereicht war. Wir leben in einer Demokratie und dürfen nicht resignieren. Vielmehr müssen wir alle Anstrengungen unternehmen, um unseren Abgeordneten und unserer Regierung deutlich zu machen, dass diese Handlungsweise nicht dem Wohl des Volkes dient und auch nicht dem Mehrheitswillen der deutschen Bevölkerung entspricht. Sowohl die nichtrauchende Bevölkerung als auch die große Mehrheit der Raucher missbilligt die durchsichtige Bevorzugung der Zigarettenindustrie. Es kann nicht länger geduldet werden, dass sichDeutschland den europäischen Partnerländern gegenüber unglaubwürdig macht.



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